Die wirksame Ersetzung einer richterlichen Unterschrift unter einem Urteil durch einen Verhinderungsvermerk des Vorsitzenden nach § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO setzt voraus, dass der Vorsitzende sich Kenntnis über diejenigen Tatsachen verschafft hat, die die Annahme einer nicht nur kurzfristigen Verhinderung des Beisitzers an der Unterschriftsleistung rechtfertigen. Maßgebend ist dabei der subjektive Kenntnisstand des Vorsitzenden. Auf den späteren tatsächlichen Gang der Ereignisse kommt es für die Ersetzungswirkung des Verhinderungsvermerks nicht an.
Eine sofortige Beschwerde nach § 72b Abs. 1 ArbGG ist begründet, wenn das angefochtene Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden ist, § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, wird dies unter Angabe des Verhinderungsgrundes vom Kammervorsitzenden unter dem Urteil vermerkt, § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Als Verhinderungsgrund im Rechtssinne ist nicht jede zeitweise Unmöglichkeit der Unterschriftsleistung anzusehen. So reicht eine kurzfristige Ortsabwesenheit hierfür nicht aus, selbst wenn das Abwarten auf die Beendigung der Ortsabwesenheit dazu führte, dass die Fünf-Monats-Frist des § 72b ArbGG nicht eingehalten werden kann. Entfällt der vorübergehende Verhinderungsgrund z.B. innerhalb einer Woche, etwa wegen einer unmittelbar bevorstehenden Rückkehr des Richters aus dem Urlaub, liegen die Voraussetzungen des § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht vor. Ein Verhinderungsvermerk des Kammervorsitzenden entfaltet demnach nur die in § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO vorgesehene Wirkung, wenn tatsächlich ein Verhinderungsgrund vorliegt. Hiervon hat sich der Kammervorsitzende vor der Anbringung des Vermerks zu vergewissern. Er hat für seine Entscheidung, von der Ausnahmeregelung des § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch zu machen, sowohl die zum Zeitpunkt der Unterschriftsreife bestehende Verhinderung zu überprüfen, als auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Prognose der weiter andauernden Verhinderung für mindestens eine weitere Woche zu erstellen; soweit sich der Vierte Senat des Bundesarbeitsgericht in einer früheren Entscheidung insoweit für einen zweiwöchigen Zeitraum ausgesprochen hat, hält er daran aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit im Hinblick auf die zitierten Entscheidungen des Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts nicht fest.
Dabei ist der Vorsitzende Richter verpflichtet, sich über die tatsächlichen Grundlagen der Prognose hinreichende Gewissheit zu verschaffen. Tut er dies, ersetzt der Verhinderungsvermerk die Unterschrift nach § 315 Abs. 1 ZPO auch dann, wenn die Prognose sich im Nachhinein als fehlerhaft herausstellt, etwa wegen einer dem Vorsitzenden unrichtig erteilten Information des Arbeitgebers über den Urlaub des verhinderten Richters. Maßgebend ist der subjektive Kenntnisstand des Vorsitzenden Richters, dem etwaige ergänzende Kenntnisse der Geschäftsstelle seines Gerichtes zugerechnet werden können. Eine danach unzulässige Ersetzung der Unterschrift durch den Vorsitzenden kann nicht durch einen ihm unbekannten und nicht in die Entscheidung einbezogenen Tatsachenverlauf nachträglich Wirksamkeit entfalten, ebenso wenig wie eine nach diesen Maßstäben gerechtfertigte Anbringung des Verhinderungsvermerks durch eine für ihn nicht erkennbare oder vorhersehbare Abweichung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse nachträglich unwirksam werden kann.
Stellt die beschwerte Partei den Kenntnisstand des Vorsitzenden Richters im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden, notwendig begrenzten Mittel substantiiert in Frage und stützt sie hierauf eine Beschwerde nach § 72b ArbGG, ist das Beschwerdegericht gehalten, im Freibeweisverfahren zu klären, ob der Vorsitzende Richter den Rechtsbegriff der Verhinderung verkannt hat und sich nicht die für die Ausnahmeregelung von § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO erforderliche Kenntnis über die aktuelle und die prognostizierte Verhinderung des Richters verschafft hat; dies kann etwa durch Einholung einer dienstlichen Erklärung des Kammervorsitzenden erfolgen. Ergibt sich hieraus, dass der Vorsitzende Richter von einer Verhinderung iSv. § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO ausgehen durfte, ist der Verhinderungsvermerk wirksam. Es kommt danach regelmäßig nicht darauf an, ob eine nachträgliche Betrachtung die tatsächliche Verhinderung bestätigt oder nicht.
Bundesarbeitsgericht, Beschluß vom 3. März 2010 – 4 AZB 23/09